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EU und EWR/EFTA-Staaten: Unterschiedliche Prinzipien, aber gemeinsame Anstrengungen


Alle zwei Jahre veröffentlicht der Rat der Europäischen Union (EU) Schlussfolgerungen zu den Beziehungen der EU zu nicht der EU angehörenden westeuropäischen Staaten. Diese Schlussfolgerungen gelten als ein viel beachtetes Stimmungsbild. Doch lassen sich die Beziehung von Nicht-Mitgliedstaaten zur EU überhaupt bewerten?

Autor: Christian Frommelt


Effektivität und externe Differenzierung

Effektivität beschreibt die Beziehung zwischen einem erreichten Zustand und einem definierten Ziel. Je näher diese beiden Grössen beieinander sind, desto höher ist die Effektivität. Externe Differenzierung ist also dann effektiv, wenn die an sie gestellten Ziele erreicht werden. Ziele und Vorstellungen externer Differenzierung können jedoch je nach Akteur stark variieren, weshalb auch die Effektivität eines konkreten Integrationsmodells je nach Perspektive unterschiedlich beurteilt werden kann. Dies soll in der Folge am Beispiel des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) verdeutlicht werden.


Unterschiedliche Ziele

Aus Sicht der EWR/EFTA-Staaten soll der EWR den grösstmöglichen Marktzugang bei möglichst geringer Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die EU- und EFTA-Institutionen gewährleisten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen möglichst grosser wirtschaftlicher Integration und möglichst geringer politischer Integration ist typisch für externe Differenzierung. Im Idealfall wirken Nicht-Mitgliedstaaten gleichberechtigt an der Gestaltung der für sie relevanten rechtlichen Bestimmungen der EU mit und verfügen dabei über ein Vetorecht, welches sich auf ihre verfassungsrechtlich vorgegebenen innerstaatlichen Entscheidungsverfahren stützt.


Der Sichtweise der EWR/EFTA-Staaten steht diejenige der EU gegenüber. Demnach soll externe Differenzierung einen Transfer von EU-Regeln auf die EWR/EFTA-Staaten sicherstellen, ohne die Integrität der EU-Rechtsordnung sowie die Autonomie des EU-Entscheidungsprozesses preiszugeben. In anderen Worten soll die Zusammenarbeit mit den EWR/EFTA-Staaten die Weiterentwicklung und Auslegung von EU-Recht selbst in den für das EWR-Abkommen relevanten Bereichen nicht einschränken. Auch soll das EWR-Abkommen ein Gesamtgleichgewicht der Vorteile, Rechte und Pflichten der Vertragsparteien sicherstellen. Blickt man über den EWR hinaus, ist die EU zudem um eine möglichst konsistente Gestaltung ihrer Aussenbeziehungen bemüht.


Die Bewertung der Effektivität des EWR hat sich aber auch an den im EWR-Abkommen definierten Zielen zu orientieren. Hervorzuheben sind hier die Präambel sowie der erste Teil des EWR-Hauptabkommens. Das Ziel des EWR ist demnach «eine beständige und ausgewogene Stärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien». Daraus folgt, dass die Effektivität mit der Intensität der wirtschaftlichen Integration im EWR korreliert. Im Vordergrund stehen dabei die Beseitigung von Handels- und Marktzutrittsschranken und die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen. Darüber hinaus soll die wirtschaftliche Integration durch den EWR Innovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit fördern.


Eine zweite im EWR-Abkommen explizit verankerte Zielsetzung ist die Errichtung eines dynamischen und homogenen Wirtschaftsraums. Diese Zielsetzung verpflichtet die Vertragsparteien zu einer harmonischen Entwicklung der einschlägigen Rechtsvorschriften und für angemessene Mittel zu deren Durchsetzung zu sorgen. Das EWR-Abkommen soll also eine konsistente Selektion, zeitnahe und vollständige Übernahme sowie korrekte Umsetzung, Anwendung und Auslegung des EWR-relevanten EU-Rechts durch die EWR/EFTA-Staaten garantieren.


Zielkonflikte

In Anbetracht der verschiedenen Perspektiven auf den EWR lassen sich Zielkonflikte nicht vermeiden. Beispielsweise waren Norwegen und Island bei der Übernahme des Europäischen Systems der Finanzaufsicht in das EWR-Abkommen bereit, für eine mit ihren verfassungsrechtlichen Verfahren und Prinzipien kompatible institutionelle Lösung auf die mit einer raschen Übernahme einhergehenden ökonomischen Vorteile des freien Marktzugangs zu verzichten. Zumindest temporär wurde so den politischen Zielen gegenüber ökonomischen der Vorzug gegeben.


Die verzögerte Übernahme von EU-Recht stellt eine besondere Herausforderung für das Funktionieren des EWR dar. Sie kann die Integrität des EU-Rechts gefährden und zu einem Überhang an Rechten für die EWR/EFTA-Staaten im Vergleich zu deren Pflichten gegenüber der EU führen. Dies steht im Widerspruch zu den Grundprinzipien der EU und räumt den EWR/EFTA-Staaten eine Sonderbehandlung ein. Andererseits scheint eine gewisse Übernahmeverzögerung im EWR unausweichlich. Nur so lässt sich die mangelnde Einbindung der EWR/EFTA-Staaten in den EU-Entscheidungsprozess kompensieren und ein automatischer Regeltransfer von der EU zu den EWR/EFTA-Staaten vermeiden. Für die Legitimität des EWR in den EWR/EFTA-Staaten ist dies unerlässlich.


Anpassungsfähigkeit der institutionellen Struktur des EWR

Der EWR soll eine belastbare Grundlage für die Beziehungen zwischen den EWR/EFTA-Staaten und der EU schaffen. Angesichts der hohen Dynamik des europäischen Integrationsprozesses bedeutet dies in der Praxis, dass sich das EWR-Abkommen laufend an die sich ändernden Umweltbedingungen anpassen muss. Die Vertragsparteien und Institutionen des EWR müssen deshalb in der Lage sein, Lösungen für spezifische Herausforderungen zu finden, um so eine dynamische Weiterentwicklung der gemeinsamen Beziehung zu garantieren. Dies ist dem EWR zweifelsohne gelungen.


In der Anpassungsfähigkeit der institutionellen Struktur des EWR-Abkommens lässt sich jedoch ein weiterer Zielkonflikt des EWR festmachen. Zwar konnte so das EWR-Abkommen fortgeführt werden, durch die vielen zusätzlichen institutionellen Regeln fand allerdings ein Kompetenztransfer von den EWR/EFTA-Staaten hin zu den Institutionen des EFTA-Pfeilers oder sogar der EU statt. Dies steht im Widerspruch zum Integrationsziel der EWR/EFTA-Staaten einer möglichst geringen politischen Integration.


Dialog statt roter Linien

Die skizzierten Zielkonflikte sind ein fester Bestandteil der Integrationsrealität der EWR/EFTA-Staaten. Die tatsächliche Integration der EWR/EFTA-Staaten ist deshalb faktisch nicht auf eine konkrete Zielsetzung ausgerichtet, sondern stellt einen Kompromiss aus verschiedenen Interessen dar.


Blickt man auf die letzten bald 25 Jahre zurück, wird der EWR aber dennoch von den Vertragsparteien positiv bewertet. Der EWR überzeugt dabei vor allem durch einen pragmatischen und konstruktiven Umgang mit den unterschiedlichen Zielen und Prinzipien der Vertragsparteien. Dies war nur möglich dank des kontinuierlichen und meist sehr sachlichen Dialogs zwischen den Institutionen und Akteuren des EFTA- und EU-Pfeilers. Gerade die EWR/EFTA-Staaten haben diesen Dialog stets genutzt, um sich trotz konkreter institutioneller Probleme zu den Zielen des EWR-Abkommens zu bekennen und ihre Bemühungen zur Verbesserung der Funktionsweise des EWR-Abkommens zu unterstreichen.


In Anbetracht der zahlreichen Herausforderungen die sich bei einem so umfassenden und dynamischen Integrationsmodell wie dem EWR stellen, ist eine vollkommene Übereinstimmung der Integrationsrealität weder mit den vertraglich festgehaltenen Integrationszielen noch mit den diesen Zielen zugrunde liegenden Integrationspräferenzen möglich. Stattdessen zählt die Glaubwürdigkeit der Vertragsparteien, sich um eine möglichst hohe Effektivität in den gemeinsamen Beziehungen zu bemühen.


Die Funktionsweise des EWR mag angesichts einer teils inkonsistenten Selektion sowie einer oft verzögerten und manchmal auch unvollständigen Übernahme des EWR-relevanten EU-Rechts zwar nicht vollends überzeugen. Auch ist seine komplexe institutionelle Struktur nur sehr bedingt ein Vorbild für andere Integrationsmodelle. Im Ergebnis funktioniert der EWR jedoch tatsächlich gut, weshalb die jüngsten Schlussfolgerungen des Rates der EU von Dezember 2018 durchaus gerechtfertigt sind.


Angesichts der weiter fortschreitenden Integration in der EU werden die EWR/EFTA-Staaten und die EU aber auch künftig gefordert sein. Der Ausgang der Brexit-Verhandlungen sowie der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein institutionelles Abkommen stellen dabei eine besondere Herausforderung für die Zukunft des EWR dar (dazu folgt ein separater Blog-Beitrag). Gleiches gilt für innerstaatliche Prozesse in den EWR/EFTA-Staaten wie beispielsweise die Diskussionen über die Notwendigkeit und Angemessenheit der verfassungsrechtlichen Integrationsschranken in Norwegen und Island. Solange die EWR/EFTA-Staaten aber nicht proaktiv rote Linien für ihre Beziehungen zur EU ziehen und solange die EU wie bisher bei konkreten Problemen im Dialog mit den EWR/EFTA-Staaten eine gewisse Flexibilität zeigt, wird der EWR weiterhin verhältnismässig gut funktionieren und damit weiterhin Bestand haben.

 

Weitere Informationen

 

Autor

Christian Frommelt, Direktor und Forschungsbeauftragter Politik am Liechtenstein-Institut

 

Zitierhinweis

Frommelt, Christian (2019): EU und EWR/EFTA-Staaten: Unterschiedliche Prinzipien, aber gemeinsame Anstrengungen. Blog. efta-studies.org.

 


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